- Machu Picchu: Die »Gralsburg« der Inka
- Machu Picchu: Die »Gralsburg« der InkaMachu Picchu, der »Alte Berg«, liegt auf einem steilen Bergrücken und bleibt auch heute noch den Blicken aus dem etwa 500 m tiefer gelegenen Tal des Río Urubamba vollkommen verborgen. In fast jeder Südamerika-Rundreise auf dem Programm, zählt die Inka-»Stadt« Machu Picchu zu den faszinierendsten archäologischen Stätten des alten Amerika. Ihre Wiederentdeckung im Jahr 1911 durch den Amerikaner Hiram Bingham gehört zu den Höhepunkten der peruanischen Archäologie. Denn diese einzigartige Anlage der Inka hatte fast unversehrt, lediglich vom Urwald überwuchert, die Jahrhunderte überdauert, ohne dass die spanischen Eroberer sie entdeckt hatten. Jedoch verdient diese in 2350 m Höhe über dem Meer angelegte Stätte eigentlich nicht die Bezeichnung Stadt, da sie kein geplantes urbanes Zentrum der Inka repräsentiert. Machu Picchu konnte frühestens ab 1438 unter der Herrschaft von Pachacutec Inca Yupanquigebaut werden, da erst unter seiner Regentschaft, von Cuzco ausgehend, die Eroberungen der Inka einsetzten. Die Anlage, vielleicht ursprünglich als Festung wie Pisac oder Ollantaytambo konzipiert, lag im »heiligen Tal« des Vilcanota, der flussabwärts Río Urubamba genannt wird. Machu Picchu diente in der Folge — insbesondere nach der Eroberung der Hauptstadt des Reiches Cuzco durch die Spanier — als »Hüter des wahrens Glaubens« und hat daher vornehmlich sakrale Bedeutung. Fast wäre man verleitet, Machu Picchu als »Gralsburg« der Inka zu bezeichnen.Der festungsartige Charakter von Machu Picchu ist seiner Lage zu verdanken. Der Ort ist von keiner Stelle des Tales aus sichtbar. Er weist auf drei Seiten steil abfallende Hänge auf und besaß ursprünglich nur einen einzigen Zugang über eine lange, steinerne Treppe. Die künstlich angelegten Ackerbauterrassen sicherten die Ernährung und somit die Autarkie der Bewohner. Sie konnten höchstens tausend Menschen versorgen. Die dominierende sakrale Komponente von Machu Picchu offenbart sich in der Gesamtanlage: Sie besteht aus dem »Hurin«-Sektor, dem tiefer gelegenen Teil mit den Wohnvierteln und einfacheren Gebäuden, und dem »Hanan«-Sektor, dem höher angelegten Bereich des Palastviertels und des Tempelbezirks mit den architektonisch eindrucksvollsten Bauwerken. Somit manifestiert sich in Machu Picchu insgesamt der sakrale Dualismus von Oben und Unten, von Himmel und Erde. Man kann zudem Machu Picchu als die in Stein gehauene, geistige Grundhaltung der Inka auffassen, die aus einer Kombination von militantem Pragmatismus, der sich in der festungsartigen Anlage manifestiert, und religiös fundierter, dynastischer Ideologie, die aus dem Tempel und den Palästen spricht, bestand.Es kommt aber ein weiteres, sehr wesentliches Element hinzu, das man als »Bauen mit der Natur« charakterisieren kann. So wurde dem unterschiedlichen Niveau des gesamten Geländes durch adäquate bauliche Maßnahmen Rechnung getragen, indem man die einzelnen Bauwerke sowohl horizontal als auch vertikal sowie durch eine große Anzahl von Treppen miteinander verbunden hat. Dabei verstanden es die Architekten der Inka in einzigartiger Weise, den natürlichen Fels in das Steinmauerwerk oder in die Steintreppen zu integrieren. Daher ist Machu Picchu der eindrucksvolle Beweis für die fast symbiotische Verschmelzung von Natur und Architektur in der Stadtanlage der Inka.Wahrscheinlich liegt hier auch das Faszinierende an Machu Picchu: Die Gesamtkonzeption, die Gesamtanlage ist eindrucksvoller als die Einzelheiten — nicht wegen der spektakulären Schönheit der Anlage, sondern wegen der Durchdringung von Architektur und Umwelt. Man könnte also Machu Picchu als unvergleichliches Beispiel einer »organischen Architektur« bezeichnen. Dafür sprechen die Ackerbauterrassen, die harmonisch an die steilen Berghänge angepasst sind, manche Bauwerke, die aus dem steilen Fels herauszuwachsen scheinen, Treppen, aus dem natürlichen Fels gehauen, die mit künstlichen Stufenblöcken eine Einheit bilden, der einzigartige runde Turm, der um einen natürlichen Felsblock als Opferstätte errichtet wurde, und die höchste Kultstätte von Machu Picchu, der Intihuatana, ein Sonnenobservatorium, das aus einem einzigen und noch an seinem ursprünglichen Platz stehenden Felsblock herausgemeißelt wurde. Machu Picchu lag einst an der Grenze des Inka-Reiches gegen das Tiefland im Osten. Hier endete nach der Weltsicht der Inka das Chaos des Urwalds, und es begann der Kosmos, die Ordnung des Reiches. Somit war Machu Picchu ein »heiliger Ort«, ein heiliger Ort des Reiches, ein Hüter von vier Welten: ein Wächter zwischen Himmel und Erde - zwischen Kosmos und Chaos.Dr. Peter KannAlcina Franch, José: Die Kunst des alten Amerika. Aus dem Französischen. Freiburg im Breisgau u. a. 21982.Die Indianer. Kulturen und Geschichte, Band 2: Münzel, Mark: Mittel- und Südamerika. Von Yucatán bis Feuerland.München 51992.Lavallée, Danièle und Lumbrerars, Luis Guillermo: Die Andenvölker. Von den frühen Kulturen bis zu den Inka. Aus dem Französischen und Spanischen. München 1986.
Universal-Lexikon. 2012.